Subtext: Schrift ist überall
Schrift ist überall und Schrift ist überall selbstverständlich. Schrift scheint die natürlichste Sache auf der Welt zu sein und sie wird mit gleicher Selbstverständlichkeit benützt wie z. B. Tische, Stühle, Kugelschreiber und Schuhe. Interessanterweise gelingt es fast immer einen Tisch als zu niedrig, einen Sessel als zu unbequem, einen Kugelschreiber als zu schlecht schreibend oder Schuhe als zu klein zu beurteilen. Es scheint als gelänge es den involvierten Körpern mühelos, klar formulieren zu können, was ihnen ergonomisch gut tut oder ihnen Schwierigkeiten bereitet. Das Urteil ob etwas in der richtigen Größe, komfortabel, leicht zu bedienen oder gut zu tragen ist, gelingt spielend leicht und ist meistens treffsicher, auch weil es den involvierten Körpern, den Urteilenden, gelingt, ihr Urteil in Worte zu fassen. Bei Schriften gelingt das offensichtlich äußerst selten.
Es kommt vor, dass jemand zu jemandem sagen kann: ›Mir tun die Schuhe weh, die sind bei der kleinen Zehe zu eng geschnitten‹, aber nicht ›Diese Schrift ist mir zum Lesen zu fleckig, abgesehen davon, dass die Spalte zu schmal ist um ins Lesen zu kommen‹. Schrift ist so selbstverständlich, dass kaum jemand, die oder der nicht von der Profession ist, darüber zu sprechen imstande ist. Ein Schriftbild wird von den kleinsten Formen und deren Variationen gebildet, Formen die so unscheinbar sind, dass sie sich dem Alltagsbewußtsein entziehen. Die Wirkung einer Schrift liegt in diesem subtilen Spiel von Weiß und Schwarz, diesen winzigen Ausdehnungen und Interaktionen von Formen, diesem Muster, das – paradoxerweise, da generell geglaubt wird, dass umso mehr verstanden wird, je einfacher etwas ist – vor allem durch seine Komplexität in der Lage ist, fast instantan Bedeutung zu evozieren.
Subtext:
Anmutung ist das sehr poetische deutsche Wort (auf englisch am ehesten mit look and feel zu übersetzen) für die feinstoffliche Wirkung des Charakters einer Schrift auf die Psyche der Lesenden. Dieser Charakter entsteht in erster Linie durch Formdetails der Buchstaben und das Zusammenspiel dieser individuellen Formen untereinander. Für eine unterschiedliche Anmutung zeichnen schon die kleinsten Formelemente in einzelnen Buchstaben verantwortlich. Diese Buchstabendetails erscheinen im Vergleich einzelner Buchstaben als sehr gering, werden aber in ihrem flächendeckenden Ausmaß in einem Absatz oder auf einer ganzen Seite als hundert- bis tausendfache Wiederholung maßgeblich wirksam.
Diese ›anmutende‹, psychologische Wirkung einer Schrift wird von Lesenden nicht bewusst wahrgenommen. Das hat zur Folge, dass die Aussage bzw. Botschaft eines Textes mit dem Charakter der Schrift für die Lesenden unbemerkt interferiert – will meinen: dass unterschiedliche Schriften einen gleichen Text unterschiedlich erlebbar machen und ihn in seinem Inhalt von subtilst bis ganz wesentlich verändern. Aus Psychologie und Psychotherapie weiß man, dass es vor allem unterbewußte Faktoren sind, die stärkste Wirkungen zu entfalten vermögen. Eine Wirkung ist umso stärker, je weniger man mitbekommt, dass man etwas mitbekommt, man daher nicht versteht, wie einem geschieht. Während sich der Sinn eines Textes deutlich zu er- oder verschließen scheint – abhängig davon ob die Lesenden dem Inhalt folgen können, was sich ihrer Aufmerksamkeit aber nie entziehen wird – bleibt der Einfluss der Schriftformen auf Lesende un- und unterbewusst und somit unbemerkt. Um diesen Einfluss ins Bewußtsein bringen zu können, braucht es ein Vokabular, denn nur worüber man sprechen kann, kann man sich bewußt sein – oder werden, indem man um Worte ringt. Fast ausschließlich ist es das, was in einer fundierten Typografieausbildung neben der Schulung der Augen und dem Abarbeiten an der Typografiegeschichte geschieht. Unnötig zu erwähnen, dass das genauso zeitaufwändig und mit Mühe verbunden ist wie jede andere handwerkliche oder künstlerische Ausbildung. Visuelle Kommunikation, und damit hauptsächlich Schrift, ist im 21. Jahrhundert unumgehbar, eine Konstante in der weltweiten kapitalistischen Kultur. Leider wird mit ihr in ähnlicher Unbedarftheit und Sorglosigkeit umgegangen wie, um nur einige Beispiele zu nennen, dem Klimawandel (bislang eines der schlechtesten Designs der Menschheit), der politischen Mündigkeit oder dem Bildungssystem (mit all den lieb- und kunstlos gestalteten Schulungs- und Unterrichtsunterlagen). Bezugnehmend auf die subliminale Wirkung von Schriftwahl und Gestaltung bleibt es verwunderlich, dass typografisches Wissen nicht mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie ein Führerschein oder eine Zentralmatura in Mathematik verlangt wird. Dadurch kann nicht deutlich genug augenfällig werden, wie in den einen Fällen unglaublich viel an z. B. wirtschaftlicher Wirkungsmöglichkeit eingebüßt und in den anderen Fällen an z. B. politischer Manipulation möglich wird (ohne hier näher auf das komplexe Verhältnis der Differenz oder Kongruenz von Wirtschaft und Politik einzugehen). Weil unter Lesen im allgemeinen nur Sinnerfassen verstanden wird, scheint Lesen eine geistige Fähigkeit zu sein. Das ist es aber keinesfalls: Lesen ist in erster Linie eine körperliche Tätigkeit. Es ist der Körper, der liest: Zuerst mit seiner Netzhaut und dem gesamten Augenapparat inklusive zwölf Muskeln, die die Augen bewegen. Dann mit einem Nervensystem, das Netzhaut und Gehirn verbindet und letztendlich mit Bereichen des Gehirns, beginnend mit dem visuellen Kortex und endend in den Teilen, die dann in der Lage sind, dem Schriftbild einen Sinn zuzuordnen. Es sind chemische und elektrische Prozesse die mithilfe zellulärer ›Hardware‹ von unglaublicher Komplexität in schwer vorstellbaren Geschwindigkeiten ablaufen und es bleibt rätselhaft, in welch vielschichtigen und verzahnten Prozessen innere Bilder und Bedeutungen in den Lesenden hervorgerufen werden. Kulturen, die Körper und Geist voneinander trennen (ganz abgesehen davon, dass politische Agenden und religiöse Manipulationen noch eine ›Seele‹ dazu- erfinden), haben die verhängnisvolle Tendenz, das Geistige dem Körperlichen vorzuziehen. Das ist wahrscheinlich generell ein folgenschwerer Trugschluss, aber vor allem bei der Beurteilung von Schrift unbrauchbar. Lesen ist eine körperliche Tätigkeit und Schrift muss vor allem die Physiologie bedienen.
Einen weiteren Aspekt der Körperlichkeit macht Johannes Raimann mit seinen Portraits der SchriftgestalterInnen im ›Subtext: Typedesign‹-Katalog deutlich. Er hat sie nicht nur in Referenz zum Schriftdesign in Schwarz-Weiß fotografiert, sondern es war ihm auch wichtig die Fotografien analog im Großformat 4 × 5 Inch zu erstellen. Damit pflegt er eine Fotografie, die deutlich den Körper miteinbezieht, körperlich agiert und Fotografieren als körperliche Tätigkeit betont. Er sieht darin eine Parallelität zur körperlichen Tätigkeit des Schriftdesignens, ein Aspekt der im digitalen Umfeld und der Arbeit vor Computern leicht übersehen werden kann. Er erweitert damit auch die treffende Analogie vom körperlichen Aspekt des Lesens zur körperlichen Arbeit des Schriftgestaltens.
Eine Bemerkung zur Schriftwahl des Katalogs und dieser Website: In einer Synopsis von Schriftentwürfen kann alleine schon aus Gerechtigkeitsgründen keine der vorgestellten Schriften dazu auserkoren werden, die Grundschrift des Katalogs zu sein. Unter diesen Umständen und bei dieser Thematik wird aber auch jede andere Schrift zu einem gewichtigen Statement, egal von wem, von wo oder von wann sie ist. Möchte man also einer übertriebenen Bedeutsamkeit entkommen, bleibt nur ein ironischer Zugang. Die Schrift Neutral von Kai Bernau bietet, wie ihr Name schon verrät, genau diesen Ausweg. Ihre erste Fassung erschien als Studienabschlussarbeit an der Royal Academy of Art in The Hague im Jahr 2005 und wurde von Kai Bernau zwischen 2010 und 2014 überarbeitet und erweitert. Die Proportionen der Neutral wurden aus den Durchschnittswerten von elf Parametern der selbst schon als ›neutral‹ geltenden Schriften AG Buch, Documenta Sans, Franklin Gothic, Frutiger, Grotesque, Neue Helvetica, Syntax, TheSans, Trade Gothic und Univers errechnet. Diese Vorgehensweise und der damit offensichtlich vergebliche Versuch, Interaktion zwischen Schriftform und Inhalt zu verhindern, zeigt, dass ›the proposal of a neutral typeface becomes a paradox‹ (Kai Bernau).
Gekürzte Einleitung aus „Subtext: Typedesign“, Andreas Pawlik, Martin Tiefenthaler (Hg.)
Erschienen 2018 bei niggli, Zürich
http://www.niggli.ch/de/subtext-typedesign.html